Psychoanalyse

Durch die psychoanalytische Behandlung neurotischer PatientInnen revolutionierte Sigmund Freud (1895, 1905, 1909) die traditionelle Arzt-Patient-Beziehung: Während Neurologen und Psychiater wie Charcot und Janet selbstherrliche Mediziner waren, die den Patienten oder die Patientin einer Anamneserhebung unterwarfen, sie als Objekte behandelten und von ihrem Innenleben durch die Hypnose Besitz ergriffen, wurde Freud zu einem Seelenforscher, der den Erzählungen seiner Patientinnen und Patienten schweigend zuhörte und ihnen interpretierend antwortete, indem er ihre Träume und irrationale Verhaltensweisen als Wiederholung unbewältigter Erfahrungen der Kindheit deutete. Wie Lorenzer (1984) erläutert, bedeutet diese Hinwendung zur Selbstdarstellung des Kranken methodisch den Übergang vom Erklären der vom Patienten beschriebenen Symptome im Rahmen eines naturwissenschaftlich gefassten Krankheitsschemas zum szenischen Verstehen der Mitteilungen des Analysanden, deren Sinn der Analytiker im Kontext des vom Kranken selbst erfahrenen Erlebniszusammenhanges erfasst, indem er sie als konkrete »Darstellungen seiner [sozialen] Lebenssituation« versteht und als »szenisch ausgebreitete Erzählungen« interpretiert (S. 123).

In Anschluss an die von Habermas (1968) entwickelte Kritik am szientistischen Selbstmissverständnis der Psychoanalyse als Naturwissenschaft hat Lorenzer (1970) die Psychoanalyse als hermeneutisch verfahrende Sozialwissenschaft rekonstruiert. Die sozialwissenschaftliche Neubestimmung der therapeutischen Psychoanalyse als Tiefenhermeneutik (vgl. Lorenzer 1970, 1974, S. 153 ff.) wurde zum Ausgangspunkt für die interaktions- und sozialisationstheoretische Reformulierung der psychoanalytischen Persönlichkeits- und Kulturtheorie, die der Dechiffrierung der Metaphorik der Metapsychologie, der Aufhebung der Geschichts- und Gesellschaftsblindheit der Freudschen Begrifflichkeit und der Integration und Systematisierung der Theoriekonstruktionen dient (vgl. Lorenzer 1972, 1974: 218 ff). Die sozialwissenschaftliche Klärung der psychoanalytischen Methode und Theorie ermöglichte die Entwicklung der von Lorenzer (1986) initiierten tiefenhermeneutischen Kulturforschung (vgl. König 2000, 2001), die von der methodologischen Reflexion der Frage ausging, wie man die in der psychotherapeutischen Praxis entwickelte Methode des szenischen Verstehens auf das Forschungsfeld der Kultur übertragen kann und wie man sie unter diesen Umständen modifizieren muss: In der Psychotherapie werden die Patientenmitteilungen auf der Grundlage des sinnlich-unmittelbaren und symbolischen Interagierens zwischen Analysand und Analytiker interpretiert, wobei jenem die Aufgabe der freien Assoziation und diesem die der gleichschwebenden Aufmerksamkeit zufällt. In der tiefenhermeneutischen Kulturforschung wird hingegen die Text-Leser-Interaktion entziffert, wobei Forscherinnen und Forscher freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit zugleich übernehmen. Und während in der Privatheit einer Behandlungspraxis die infantilen Lebensentwürfe eines Patienten oder einer Patientin rekonstruiert werden, wird in der Gruppe der Forschenden aus verschiedenen Lesarten eine Deutung des Textes konstruiert, die sich auf die Enträtselung der Lebensentwürfe richtet, die aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit den in Anspruch genommenen Moralvorstellungen auf eine latente Bedeutungsebene verwiesen werden.

Hans Dieter König

Literaturverzeichnis
Breuer, J., S. Freud (1895): Studien über Hysterie. Gesammelte Werke Bd. I, Frankfurt a. M. 1999 (Fischer), 75-312.
Freud, S. (1905): Bruchstück einer Hysterie-Analyse. Studienausgabe Bd. VI, Frankfurt 1971 (Fischer), 83-186.
Freud, S. (1909): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Studienausgabe Bd. VII, Frankfurt a. M. (Fischer), 31-103.Habermas, J.(1968): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973.
König, H. D. (2000): Tiefenhermeneutik. In: U. Flick, E. v. Kardoff, I. Steinke (Hg.): Qualitative Forschung: Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg (Rororo).
König, H. D. (2001): Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung. In: H. Appelsmeyer, E. Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaft. Felder einer prozessorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist (Velbrück), 168-194.
Lorenzer, A. (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Lorenzer, A. (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Lorenzer, A. (1974): Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Lorenzer, A. (1984): Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. (Fischer).
Lorenzer, A. (1986): Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: H. D. König, Lorenzer, A. et. al., Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur, Frankfurt a. M. (Fischer), 11-98.