Tiefenhermeneutische Kulturanalyse

Die von Lorenzer (1981, 1986) am Beispiel der Interpretation literarischer Texte entwickelte Methode der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (vgl. König 2000b) stellt eine qualitative Methode psychoanalytischer Kulturforschung dar, welche den narrativen Gehalt von Texten und Bildern über die Wirkung auf das Erleben der Forscherinnen und Forscher untersucht. Sie ist von einer naiven Anwendung der Psychoanalyse auf die Kultur zu unterscheiden, die sich dadurch auszeichnet, dass die in der psychotherapeutischen Praxis entwickelten Begriffe Freuds in einer gedankenlosen Weise auf soziale Prozesse übertragen werden, obwohl es sich dabei um ein ganz anderes Forschungsfeld handelt. Der Gefahr, der Eigendynamik kultureller Prozesse nicht gerecht zu werden, sie zu psychologisieren und zu pathologisieren, entgeht die Tiefenhermeneutik dadurch, daß sie die in der psychotherapeutischen Praxis entwickelte Methode des szenischen Verstehens (vgl. Lorenzer 1970) auf eine methodologisch reflektierte Weise modifiziert, so dass sie dem jenseits der Couch gelegenen Forschungsfeld gerecht wird und einer qualitativ-interpreativen Forschungspraxis entsprechend dazu geeignet ist, Neues zu entdecken.

Wer für das eigene Forschen die Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung nutzt, hat eine Reihe von – an anderer Stelle (vgl. König 1997, 2001) erörterten – Regeln zu beachten, von denen nur folgende erwähnt werden sollen:

(1) Die Analyse zielt auf die Rekonstruktion des szenischen Gehalts der in Texten und Bildern arrangierten sozialen Interaktionen, in dem sich bewusste und unbewusste Lebensentwürfe auf eine sinnlich-anschauliche Weise ausdrücken. Zu erschließen ist die Doppelbödigkeit sozialen Handelns, dessen Bedeutung sich in der Spannung zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn entfaltet. Der manifeste Sinn des symbolischen Interagierens erweist sich als Niederschlag bewusster Lebensentwürfe, über die sich die Akteure sprachlich verständigen können, weil sie im Einklang mit der das soziale Handeln regulierenden Moralvorstellungen vereinbar sind. Auf der latenten Bedeutungsebene des symbolischen Interagierens verschaffen sich dagegen uneingestandene Lebensentwürfe einen Ausdruck, die entweder noch niemals bewusst geworden sind, weil sie noch nicht sprachlich lizensiert wurden, oder die verdrängt wurden, weil sie aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der gesellschaftlichen Moral wieder der sprachlichen Selbstverfügung entzogen wurden. Unter dem Druck eines Wiederholungszwanges setzen sich die aus dem sozialen Konsens ausgeschlossenen Lebensentwürfe jedoch in Träumen durch und stören das symbolische Interagieren durch Fehlleistungen, Impulsdurchbrüche und andere irrationale Verhaltensreaktionen.. Dieses symptomatische Verhalten bedeutet, dass sich unterdrückte Lebensentwürfe auf eine imperative Weise hinter dem Rücken der bewussten Selbstverfügung des Subjekts verhaltenswirksam durchsetzen.

(2) Das kognitive Verstehen der im Forschungsprozess zu verstehenden Texte und Bilder basiert auf einem affektiven Verstehen, das mit Hilfe der von Freud (1912) so bezeichneten Regeln der »freien Assoziation« und der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« für den Interpretationsprozess nutzbar gemacht wird.

(3) Von besonderem Interesse für das psychoanalytische Verständnis von Texten und Bildern sind jene Interaktionsszenen, die aufgrund von Inkonsistenzen, Widersprüchen und Ungereimtheiten irritieren. Mit dem Begriff der Irritation hebt Lorenzer (1990) darauf ab, dass die den Forscher und die Forscherin befremdenden Szenen neue Lesarten erschließen, die von den durch ein routinisiertes Textverstehen erschlossenen Lesarten abweichen und eine quer zum manifesten Sinn gelegene latente Sinnebene erschließen (vgl. König 1996, S. 354 f.).

(4) Das szenische Verstehen geht zwar vom je eigenen Erleben der Forscherin und des Forschers aus, wird jedoch in die Gruppeninterpretation der Forschenden eingebracht (vgl. König 1993, S. 206 ff.), um eine Vielzahl von Lesarten zu erschließen, aus denen eine Deutung der szenischen Struktur des Textes oder Bildgefüges konstruiert wird.

(5) Das sich der Umgangssprache bedienende szenische Interpretieren stellt das erste Feld der tiefenhermeneutischen Fallrekonstruktion dar. Das theoretische Begreifen bildet das zweite Feld der psychoanalytischen Kulturforschung, im Zuge derer das Neue, das durch die szenische Interpretation erschlossen wurde, typisiert und auf der Basis einer sozialen und historischen Kontextualisierung verallgemeinert wird.

Mit Hilfe der Tiefenhermeneutik lässt sich daher aus psychoanalytischer Perspektive untersuchen, wie kommunikatives Handeln durch symbolische Interaktion ermöglicht oder durch symptomatisches Agieren verzerrt werden. Das verdeutlichen zwei Anwendungsformen: Eine tiefenhermeneutischen Kulturanalyse rekonstruiert, wie kulturelle Sinnangebote – wie beispielsweise Medienangebote, kommerzielle Werbung und politische Inszenierungen, Kunst und Literatur – die Subjekte aufklären oder auf manipulative Weise vereinnahmen: Im einen Fall werden noch nicht bewusst gewordene oder nur in einem marginalen Diskurs erörterte Lebensentwürfe öffentlich zur Sprache gestellt, um die durch den hegemonialen Diskurs bestimmten herrschende Verhältnisse in Frage zu stellen; im anderen Fall werden etwa in der Tiefe unbewussten Erlebens wirksame neurotische Ängste oder destruktive Impulse mobilisiert, um für Vorurteile oder eine den status quo rechtfertigende Weltanschauung einzunehmen. Die tiefenhermeneutische Biographieforschung, welche lebensgeschichtliche Situationen als Inszenierung von bewussten und unbewussten Lebensentwürfen begreift, differenziert in einer vergleichbaren Weise zwischen rationalem Handeln und irrationalen Verhalten: Als rational lässt sich ein symbolisches Interagieren beschreiben, bei dem das Individuum eine Krisenerfahrung durch Selbstreflexion löst und durch eine schöpferische Regression auf unbewusste Lebensentwürfe eine kreative Lösung findet, mit deren Hilfe sich die äußere Situation verändern lässt. Irrational ist hingegen ein symptomatisches Agieren, bei dem Krisensituationen das Auftauchen verdrängter Lebensentwürfe provozieren, die sich sodann hinter dem Rücken der bewussten Selbstverfügung auf eine blind-bewusstlose Weise durchsetzen. Die Tiefenhermeneutik vermag im Zuge exemplarischer Fallrekonstruktionen zu untersuchen, wie soziale Herrschaft über den Zugriff auf unbewusste Erlebnisfiguren in der Tiefe der Subjekte verankert wird, und zugleich zu analysieren, wie Subjekte im Rückgriff auf unbewusste Lebensentwürfe Phantasie entfalten und neue Handlungsspielräume entwickeln.

Hans-Dieter König

Literaturverzeichnis
Freud, S. (1912): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. Studienausgabe, Erg. Bd., Frankfurt a. M. 1975 (Fischer), 169-180.
König, H. D. (1993): Die Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie. In: T. Jung, S. Müller-Doohm (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 190-222.
König, H. D. (1996 c): Methodologie und Methode der tiefenhermeneutischen Kultursoziologie in der Perspektive von Adornos Verständnis kritischer Sozialforschung. In: H. D. König (Hg.): Neue Versuche, Becketts Endspiel zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach Adorno. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 314-387.
König, H. D. (1997): Tiefenhermeneutik als Methode kultursoziologischer Forschung. In: R. Hitzler, A. Honer, Hg., Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Leverkusen (Leske + Budrich), 213-241.
König, H. D. (2000): Tiefenhermeneutik. In: U. Flick, E. v. Kardoff, I. Steinke (Hg.): Qualitative Forschung: Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg (Rororo), 556-569.
König, H. D. (2001): Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung. In: H. Appelsmeyer, E. Billmann-Mahecha (Hg.): Kulturwissenschaft. Köln (Velbrück), 168-194.
Lorenzer, A. (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Lorenzer, A. (1981): Zum Beispiel ‚Der Malteser Falke‘. Analyse der psychoanalytischen Untersuchung literarischer Texte. In: B. Urban, W. Kudszus, Hg., Psychoanalytische und psychopathologische Literaturinterpretation, 23-46. Darmstadt.
Lorenzer, A. (1986): Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: H. D. König, Lorenzer, A. et. al., Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur, Frankfurt a. M. (Fischer), 11-98.
Lorenzer, A. (1990): Verführung zur Selbstpreisgabe – psychoanalytisch-tiefenhermeneutische Analyse des Gedichtes von Rudolf Alexander Schröder. In: Kulturanalysen, 2. Jg., Frankfurt a. M., 261-277.